3.

Ada stieg mit ihnen in den Leihwagen und führte sie zu dem türkisfarbenen Trailer, der noch vor der Einfahrt zum Hof stand. Auch aus der Nähe machte der Blechkasten den Eindruck, als sollte er samt umherstehendem Unrat in den nächsten Tagen von der Sperrmüllabfuhr geholt werden.

Doch drinnen hatte sich jemand große Mühe gegeben, die Zimmer bewohnbar zu gestalten. Größter Raum war die Küche mit einer Schlafcouch, einem alten Sessel, einer Aluspüle auf Holzbeinen und diversen kleinen Schränken.

Linker Hand führte ein schmaler Gang in einen angrenzenden Raum mit einem frisch bezogenen Bett und einem Nachtschränkchen. Vom Gang aus kam man in eine Abstellkammer und in ein ebenso kleines Bad mit Toilette, Waschbecken und Badewanne. Die Einrichtung schien uralt zu sein, aber Julia gefiel es im Trailer. Vielleicht war sie auch einfach nur erleichtert, nicht im Ranchhaus schlafen zu müssen.

Ada erklärte ihnen, dass es keinen Strom und auch kein fließend Wasser gab. Waschbecken, Spüle, Wanne und Toilette alles nur Attrappe. Für Notfälle stand im Bad ein Eimer mit Deckel. Ein anderer Eimer, der immer wieder aufgefüllt werden musste, enthielt Wasser zum Waschen.

Ada überreichte Julia und Hanna zwei große batteriebetriebene Lampen und offenbarte ganz nebenbei, dass die Tür des Trailers nicht verschließbar war. Wo eigentlich das Schloss sein sollte, befand sich ein kreisrundes Loch. Sie erklärte der entgeisterten Hanna, wie man die Tür mit einem verbogenen Draht geschlossen halten konnte.

»Sollte es stürmisch werden«, warnte Ada sie, »schiebt ihr am besten von innen einen Stein vor.«

Hanna nickte stumm.

»In einer Stunde gibt es Abendessen«, sagte die alte Frau. »Hilfe ist immer willkommen.«

Nach dem Essen, das aus Kartoffeln, gebackenen Bohnen und Hamburgern bestanden hatte, saßen Julia und Hanna mit den beiden Alten in der Küche, während Tommy nebenan auf dem Teppich hockte und zusammenhanglos vor sich hin brabbelte. Boyd knabberte an der Schokolade, die Julia ihm aus Deutschland mitgebracht hatte, und trank Kool Aid dazu.

Ada erzählte, dass Tommy der Sohn von Sarah war, Johns Schwester. Sarah hatte mit ihrem Mann eine Zeit lang in der Nähe des Atomwaffentestgebietes bei Las Vegas gelebt, bei einem kleinen Ute-Stamm. Obwohl die Sprengungen auf dem Testgelände seit vierzig Jahren per Gesetz unter der Erdoberfläche stattfinden mussten, gelangte dabei immer wieder Strahlung in die Luft.

»Durch den Druck, der bei den Explosionen entsteht, schießen Millionen von Gammastrahlen und radioaktiven Jodpartikeln in die Atmosphäre, vermischen sich mit Regenwolken und gehen wer weiß wo nieder«, schimpfte Ada voller Missbilligung. »Weht der Wind aus Richtung Westen, bekommt das Reservat der Ute-Indianer alles ab. Als Tommy zur Welt kam, gaben ihm die Ärzte keine drei Jahre. Sie rieten Sarah, ihn in ein Heim zu geben, was sie aus Verzweiflung auch tun wollte. Aber ich konnte das nicht zulassen«, die alte Frau schüttelte den Kopf, »nicht bei meinem Enkelsohn. Deshalb habe ich den Jungen bei mir aufgenommen und ihm alles gegeben, was er braucht. Inzwischen ist Tommy vierundzwanzig.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, dass meine Kinder ihr Land und ihr eigen Fleisch und Blut im Stich lassen.«

Hanna überhörte den Vorwurf. »Wie geht es Veola und den Kindern?«, fragte sie mit tapferer Stimme.

Julia horchte auf.

»Veola lebt mit Jason in Eldora Valley. Sie arbeitet für unsere Organisation Shoshone Rights. Jason ist fertig mit der Highschool und hat keinen Job. Tracy arbeitet in einem Supermarkt in Elko. Sie wohnt auch in der Stadt.«

Sie fuhr noch eine Weile fort, von ihren Enkeln zu sprechen, aber Julia kam es so vor, als wäre das Herz ihrer Großmutter seltsam unbeteiligt. Als würde sie über Fremde reden und nicht über ihre eigenen Enkelkinder.

Wer war diese seltsame Frau, deren Blut in ihren Adern floss? Gab es irgendetwas, das sie miteinander verband, außer dass sie Granny zu ihr sagte? Julia kam es so vor, als würde ihre Großmutter Menschen nicht mögen. Vielleicht war ihr das Mitgefühl für andere abhanden gekommen, während sie so erbittert um ihr Land kämpfte. Vielleicht hatte John Temoke die Ranch verlassen und war nach Deutschland gegangen, weil er nicht so werden wollte wie seine Mutter.

Später lag Julia todmüde im Bett, konnte aber lange nicht einschlafen, weil die Zeiger ihrer inneren Uhr nicht mit denen auf ihrer Armbanduhr übereinstimmten.

So vieles ging ihr durch den Kopf. Sie hatte unzählige Fragen und wusste nicht, an wen sie sie richten sollte. Es war für sie immer noch unfassbar, dass ihr Vater ihr so vieles verschwiegen hatte. Aber sie konnte es ihm auch nicht mehr vorwerfen. Er hatte alles mit ins Grab genommen: seine Liebe, seine Gründe für die verschwiegenen Wahrheiten, seine Fehler.

Julia weinte. Kein wütendes Schluchzen kam aus ihrer Kehle, die Tränen liefen einfach über ihre Schläfen und versickerten im Kopfkissen. Sie lauschte auf den Wind und die Geräusche der Nacht. Unter dem Trailer, der auf Hohlblocksteinen stand, konnte sie das Huschen, Knistern und Nagen kleiner Tiere hören. Wind strich durch das trockene Gras, ließ die Halme aneinanderstreifen. Irgendwo in den nahen Hügeln heulte ein Kojote und das leise Wiehern eines Pferdes war die Antwort.

Was will ich wirklich hier?, war die übergroße Frage, die alle anderen in den Schatten drängte. Was will ich hier und was habe ich mir erhofft? Ihre indianischen Großeltern waren Fremde, die auf einem Schrottplatz am Ende der Welt lebten und bisher wenig Interesse an ihrer Enkeltochter zeigten. Sich das einzugestehen, machte Julia schwer zu schaffen.

Irgendwann musste sie dann doch eingeschlafen sein, denn sie wurde wach, weil ihre Blase drückte. Julia stand auf, um zur Toilette zu gehen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass es keine funktionierende Toilette im Trailer gab. Ihr blieb nichts anderes übrig, als nach draußen zu gehen, denn der Eimer im Badezimmer war eine wenig verlockende Alternative.

Sie tastete nach der Stabtaschenlampe auf dem Schränkchen neben dem Bett und ihre Hände glitten über etwas, das rund war und sich rau anfühlte.

Die Steine. Jemand hatte drei Steine auf das Schränkchen gelegt. Eine Geste, die nicht zu ihrer Großmutter zu passen schien. Aber was wusste Julia schon, wer vor ihr in diesem Bett geschlafen hatte.

Sie fand die Taschenlampe, knipste sie an und schlüpfte in ihre Sandalen. Hanna schlief tief und fest auf der Couch in der Küche. Julia hatte einige Mühe mit der Tür. Es war ein Kunststück, in einer Hand die Taschenlampe zu halten und mit der anderen den Draht aus der äußeren Verankerung einem verbogenen Nagel zu lösen. Schließlich gelang es Julia, ohne dabei ihre Mutter zu wecken. Einen Augenblick verharrte sie auf den Holzstufen vor der Tür und versuchte, die Umgebung zu erkennen. Ein großer runder Mond stand über den Bergen und verwandelte die Landschaft in Täler aus Licht und Schatten. Es war sehr still, beinahe unheimlich still. Ein kühler Luftzug streifte sie. Fröstelnd rieb sie sich die nackten Arme.

Dann stieg sie nach unten, um sich ein Plätzchen im Gras zu suchen, ein Stück weg vom Eingang.

Vorsorglich leuchtete sie den Boden ab. Bestimmt gab es hier jede Menge Schlangen. Ihr Vater hatte erzählt, dass er als Kind von einer Klapperschlange gebissen worden war. Das war keine Erfahrung, die sie wiederholen wollte.

Julia fand eine geeignete Stelle und pinkelte ins Gras. Auf dem Weg zurück zum Eingang hörte sie ein Geräusch und zuckte zusammen. Es hatte wie ein ersticktes Knurren geklungen, war aber doch sehr deutlich zu hören gewesen. Sie nahm ihren Mut zusammen, ließ den Strahl der Taschenlampe noch einmal durch die Nacht gleiten, und leuchtete plötzlich in ein Gesicht. Hinter einem halb zerfallenen Zaun, verdeckt von Sträuchern, stand jemand und beobachtete sie.

Julia stieß einen Schrei aus und ließ vor Schreck die Taschenlampe fallen. Ein Hund begann zu bellen. Voller Panik machte sie kehrt, stolperte über ein herumliegendes Brett und schlug mit dem rechten Knie auf die Stufen vor dem Eingang. »Au, verflucht«, schimpfte sie und hielt sich das Bein. Die Tür des Trailers ging auf und Hanna erschien im Nachthemd, eine von Adas großen Taschenlampen in der Hand.

»Was ist denn los, Julia? Was schreist du hier herum wie eine Verrückte? Und was machst du überhaupt da draußen, mitten in der Nacht?«

Julia rappelte sich auf und schlüpfte an ihrer Mutter vorbei in den Trailer. »Da war jemand«, sagte sie, als Hanna die Tür wieder verschloss. Sie hockte sich in den Sessel und wartete, dass der Schmerz nachließ.

»Warum hast du mich nicht geweckt?«

»Ich bin raus, weil ich mal musste. Da hab ich ihn hinter den Sträuchern stehen sehen.«

»Vielleicht hast du dich geirrt bei all dem Kram, der da draußen herumsteht.«

»Ich habe doch keine Halluzinationen«, protestierte Julia entrüstet. »Da war jemand.«

»Könnte es Boyd gewesen sein?«, fragte Hanna, die versuchte, den Draht wieder festzuklemmen, damit die Tür zublieb. »Ada sagt, er schläft schlecht.«

»Nein. Es war definitiv nicht Grandpa«, bemerkte Julia. »Er war jünger, nicht viel älter als ich.«

Hanna richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe auf Julias Bein. »Hast du dich verletzt?«

»Das Knie blutet.«

»Ich hole dir ein Pflaster.«

Ob es Jason gewesen war? Julia erinnerte sich an den finsteren Ausdruck in den Augen ihres Halbbruders in Sams Laden. Vermutlich hatte er an der Tankstelle nur einen Blick auf den Leihwagen werfen müssen, um sich zusammenzureimen, wer die beiden Fremden waren.

Hanna kümmerte sich um Julias Knie und anschließend gingen beide zurück in ihre Betten. Der helle Mond schien zum kleinen Fenster in Julias Zimmer herein und beleuchtete die Steine auf dem Schränkchen. Einer von ihnen glimmerte leicht im fahlen Licht.

Es dauerte noch lange, bis Julia wieder einschlafen konnte.

Simon hatte sie seit ihrer Ankunft beobachtet. Die rothaarige deutsche Frau und das Mädchen. Julia, die Enkeltochter der beiden Alten. Unbemerkt war er Zeuge ihrer ersten Begegnung mit Tommy geworden. Hatte den Ausdruck angstvollen Schreckens in Julias Gesicht gesehen und gespürt, wie verstört sie war. Aber das machte er ihr nicht zum Vorwurf. Jeder, der Tommy unvorbereitet sah, erschrak.

Mutter und Tochter hatten den Abend im Ranchhaus verbracht und Simon hatte es vorgezogen, sich nicht blicken zu lassen. Das tat er meistens, wenn Gäste da waren. Sich unsichtbar zu machen, fiel ihm nicht schwer, das Gelände der Ranch war groß genug. Auf diese Weise konnte er die Möglichkeit umgehen, angesprochen zu werden und sich lächerlich zu machen. Ada und Boyd hatten das stillschweigend akzeptiert.

Später waren Julia und ihre Mutter in den Trailer schlafen gegangen. Simon hatte sich Mühe gegeben, alles so herzurichten, dass man es einigermaßen gut aushalten konnte. Er hatte Mäusedreck entfernt und vertrocknete Grillen vom vergangenen Jahr. Hatte den Boden gefegt, die Möbel geschrubbt und die Betten bezogen. Sogar drei seiner Steine hatte er geopfert, damit es im Trailer wenigstens etwas gab, das schön war.

Simon fragte sich, was das Mädchen wohl dachte. Über ihre Großeltern und die Ranch. Über das Leben hier. Die meisten Neuankömmlinge wirkten beim Anblick der heruntergekommenen Ranch verstört. Die klapprigen Behausungen, die ausgedienten Fahrzeuge, der von Unkraut überwucherte Müll, der immer da war, sooft sie ihn auch wegräumten.

Kaum jemand konnte sich vorstellen, hier zu leben. Für ihn dagegen war die Ranch mehr als ein Ort, an dem er wohnte. Sie war ein lebendiges Wesen, etwas, das vertraut war und ihm Geborgenheit gab.

Simon liebte den Geruch von Erde, Heu und warmen Tierleibern. Den süßlichen Duft wiedergekäuten Grases. Er liebte die Pfade durch die Berge, weil sie von Tieren stammten und nicht von Menschen. Sein Schicksal war nichts, worüber er lange nachdachte. Morgens klingelte kurz vor sechs Uhr sein Wecker und er tat, was getan werden musste. Seine Tage hatten Ordnung und Sinn und einen Zweck. Das war nicht immer so gewesen, doch an die Zeit vor der Ranch mochte er lieber nicht denken.

Nun war auf einmal diese Julia da. Ein zierliches Mädchen mit langen Beinen. Sie gefiel ihm, soweit er das aus der Ferne beurteilen konnte. Jedenfalls hatte sie keine Ähnlichkeit mehr mit dem pummeligen Kind auf dem Foto im Ranchhaus. Nur den dicken, geflochtenen Zopf, der ihr bis auf die Taille fiel, den hatte sie immer noch.

Julias Anwesenheit auf der Ranch versetzte Simon in Unruhe. Sein Tagesablauf kam durcheinander und er konnte sich nicht mehr so frei bewegen wie sonst. Jeden Moment musste er damit rechnen, ihr oder ihrer Mutter in die Arme zu laufen. Und dann würde er Höflichkeitsfloskeln austauschen und, was noch schlimmer war, vielleicht sogar Fragen beantworten müssen.

Weil Simon nicht schlafen konnte, ging er mit Pepper noch einmal nach draußen. Auf unerklärliche Weise zog es ihn zum Trailer. Er stand in der Dunkelheit und lauschte. Doch in der Stille vernahm er nur seine eigenen, lauten Atemzüge.

Plötzlich ging drinnen eine Taschenlampe an und jemand kam heraus. Das Mädchen. Er konnte Pepper gerade noch daran hindern loszubellen. Aber Julia entdeckte ihn und erschrak fürchterlich.

Was musste sie jetzt denken? Dass er ein verrückter Spanner war? Simon verfluchte sein Ungeschick und seine Neugier. Er wünschte, er wäre in seinem Wohnwagen geblieben.

Die verborgene Seite des Mondes
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